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Dr. phil. Adelheid Müller-Lissner

Wenn die Kinder ausziehen

Dr. phil. Adelheid Müller-Lissner 

Die Journalistin und Buchautorin hat unter anderem Pädagogik und Philosophie studiert und sich in ihren Büchern „Enkelkinder! Eine Orientierung für Großeltern“ und „Empty Nest. Wenn die Kinder ausziehen“ mit einschneidenden biografischen Ereignissen beschäftigt. Sie hat dazu Wissenschaftler:innen und zahlreiche Betroffene befragt.

Wenn das Nest, das Zuhause, leer ist, weil die Kinder bzw. das Kind ausgezogen ist, verändert sich ja so einiges. Was raten Sie Eltern, die nun wieder als Paar Zuhause leben?

Wenn man jahrelang als Familie mit Kindern unter einem Dach gelebt hat, ist das ein bedeutsamer biografischer Einschnitt. Es ist deshalb empfehlenswert, ihn als Paar bewusst zu erleben und darüber zu kommunizieren, statt sich in dieser Zeit leicht schamhaft aus dem Weg zu gehen. In einer Auswertung von Statistiken aus dem „Generations and Gender Survey“ zeigten die Soziologen Thomas Klein und Ingmar Rapp von der Universität Heidelberg im Jahr 2010, dass kurz nach diesem Zeitpunkt sogar die Scheidungsrate (die eigentlich bei Eltern niedriger ist als bei kinderlosen Paaren) deutlich ansteigt. Ingmar Rapp sagte mir dazu: „Ein Grund dafür, dass Kinder Ehen zusammenhalten, ist, dass man ein Kind nicht so leicht allein erziehen kann.“

Unter den Paaren, die auch danach zusammenbleiben, gibt aber auch das Phänomen des „Second Honeymoon“ nach dem Auszug der Kinder! Die Chance dazu entsteht, wenn man nun zu zweit Dinge unternimmt, mit denen man sich eventuell an die Anfangszeit zurückbesinnt: Hobbys wiederaufnimmt, Reisen plant oder auch nur öfters zu zweit in ein Restaurant geht, dessen Speisenangebot den Kindern nicht gefiel. Ganz wichtig ist es auch, das Wohnumfeld neu zu erobern. Vielleicht kann aus dem Kinderzimmer ein Arbeitszimmer werden, in dem für Besuche von Kindern oder Freunden dann eine Schlafcouch steht. Das gemeinsame Planen macht Freude und verbindet. 

Wenn Eltern mehrere Kinder haben, fällt dann das Abschiednehmen mit der Zeit leichter? Wird man routinierter beim Auszug? 

Wie alle Dinge im Leben kann man das sicher „üben“. Dafür eignen sich aber auch Klassenfahrten und längere Auslandsaufenthalte der Kinder. Eigentlich ist es ja für jedes einzelne Kind ein „Abschied auf Raten“, der schon am ersten Kindergartentag beginnt, oder sogar schon mit dem ersten Schritt, den ein Kleinkind aus dem Raum macht, in dem die Eltern sich befinden. Das „Empty Nest“ wird allen Eltern aber erst in seiner vollen Tragweite bewusst, wenn das letzte Kind auszieht. Eine Psychotherapeutin hat mir zudem berichtet, dass es in einigen Fällen ein „Lieblingskind“ gibt, dessen Auszug für Mutter oder Vater besonders schmerzlich ist.

Ist es ratsam, mit Kindern eine Absprache über die zukünftigen Familienroutinen zu treffen, oder sollte man abwarten, wie es sich in der neuen Situation ergibt?

Das ist sicher individuell recht verschieden. Grundsätzlich sollten Eltern sich aber klarmachen, dass der Auszug für die erwachsenen Kinder etwas ganz anderes bedeutet als für sie selbst: Die jungen Erwachsenen beginnen ihr selbstständiges Leben, das ist aufregend und herausfordernd. Und es hat zunächst Priorität. In den meisten Fällen würde ich deshalb für das Abwarten plädieren, für eine feinfühlige Begleitung (nicht Kontrolle!). Darauf können dann Vorschläge aufbauen. Und man kann stets zeigen, dass man als Mutter oder Vater „da“ ist und helfen kann. Im Familien-Chat kann man sich ja schnell und unkompliziert erreichen. Und nach einiger Zeit dann gemeinsame Unternehmungen vorschlagen, bis hin zu gemeinsamen Reisen.

Viele Eltern spüren durch den Auszug eine Leere und auch Zukunftsängste, was den neuen Lebensabschnitt angeht. Wer leidet mehr, Mütter oder Väter?

Als der Begriff „Empty Nest Syndrome“  in den 50er/60er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA aufkam, fielen Psychiatern und Psychotherapeuten zunächst die Mütter auf, deren Kinder nach dem Highschool-Abschluss aufs College gingen: Frauen, die nicht erwerbstätig waren und nun eine Leere verspürten, weil ihre gewohnte „Lebensaufgabe“ fehlte. In nicht wenigen Fällen waren Psychopharmaka, die ohne echte medizinische Notwendigkeit eingesetzt wurden, dann die „Lösung“ („mother’s little helper“ im Song der Rolling Stones von 1966). Das wurde aber später kritisch gesehen: erstens, weil einige Frauen vielleicht in Wirklichkeit andere psychische Probleme hatten, etwa eine echte Depression, die nur auf den Auszug der Kinder „geschoben“ wurde. Zweitens und vor allem aber, weil sich Vorstellungen über die Rolle der Frauen änderten und weil sie vermehrt berufstätig wurden. Die amerikanischen Soziologen Donald Spence und Thomas Lonner von der Universität in San Francisco hatten schon 1971 konstatiert, dass es ein Defizit in der Erziehung von Frauen gebe: Man habe sie nicht darauf vorbereitet, dass die aktive Elternphase in der Zwei-Kind-Familie angesichts der hohen Lebenserwartung nur kurz sei. Das Problem sei nicht das leere Nest, sondern die „leere Frau“, schrieb im Jahr 1977 die Psychotherapeutin Rose Oliver.

Das hat sich inzwischen gründlich geändert: Die meisten Frauen haben eine berufliche Aufgabe (wenn auch oft in Teilzeit), wenn ihre Kinder von Zuhause ausziehen. Nun rücken verstärkt die Väter in den Focus. Sie scheinen anders zu leiden als die Mütter. „Viele Väter werden von ihren Gefühlen überrascht“, sagt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Weil in der Generation, deren Kinder heute das Elternhaus verlassen, die familiären Aufgaben oft noch ungleich verteilt sind, sehen Väter eher ein „vergoldetes“, idyllisches Bild des Familienlebens, dem sie nach dem Auszug der Kinder nachtrauern: Sie haben ja oft nicht Windeln gewechselt, die Streitigkeiten der Kinder geschlichtet, den Haushalt geschmissen, Elternabende besucht. Anders als die Frauen freuen sie sich entsprechend auch nicht so sehr über berufliche und private Freiräume, die in der neuen Lebensphase entstehen. Und viele tun sich schwerer damit, auf Distanz Kontakt zu den Kindern zu halten. Spannend wird aber sein, wie die nächste Generation auf den Auszug der Kinder reagiert: Paare, die sich die Kinderbetreuung und die Sicherung des finanziellen Rahmens der Familie gerecht geteilt haben. Wird es hier anschließend an die aktive Familienphase auch mehr Gleichheit in der Reaktion auf das „Empty Nest“ geben?

Es gibt immer mehr Alleinerziehende, meist Frauen als „single Moms“. Fällt das „Empty Nest Syndrom“ bei ihnen stärker aus als bei Eltern in einer Paarbeziehung?

Das kann man sicher nicht pauschal beantworten, aber tendenziell ist es so: Vor allem, wenn Alleinerziehende nur ein Kind betreuen, entsteht oft eine Art „Paarbeziehung“ zwischen Mutter/Vater und Kind. Die „Trennung“ nach dem Auszug des Kindes kann dann als sehr grausam empfunden werden, wie es etwa die Journalistin Silke Burmester in ihrem Buch „Mutterblues“ beschreibt. Prinzipiell müssen aber alle Eltern lernen, dass Elternliebe das Groß- und Selbstständig-Werden der Kinder will. Sie ist also grundlegend anders als die Liebe in der romantischen Paarbeziehung. Alleinerziehende haben es einerseits schwerer, das zu realisieren. Andererseits haben sie aber oft ein tragfähiges soziales Umfeld für die Erziehung aufgebaut, auf das sie sich stützen können. Da sie in einer Lage sind, die sie sich zu Beginn meist nicht „ausgesucht“ haben, sind sie meist auch besonders reflektiert. Das hilft auch in dieser Situation.

Unsere umfassenden Informationen zur Stage Empty Nest finden Sie hier.

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